Reflexion nach der Demo gegen Isolation

Annika Becker*

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich meine Gedanken nach der Demonstration von abgewiesenen Asylsuchenden am 22. September aufschreiben soll.

Wie andere Teilnehmerinnen dieser friedlichen Demonstration erlebte ich physischen Angriffen und die unverhältnismässige Wut der Berner Polizei und die anschliessende Deprimierung. Der Staat hat erneut gezeigt, dass die Geflüchtete – nichtweisse Menschen aus Drittländern, quasi Menschen der dritten Klasse sind. In diesem Fall spielte es keine Rolle, ob es sich bei den Demonstranten um Kinder, schwangere Frauen oder Behinderte handelte. Sowohl Kinder als auch behinderte Menschen litten unter dem Tränengas, und auch schwangere Frauen wurden durch Gummischrot verletzt.

Wenn man mit dem System nicht einverstanden ist, hat man die Idee, dass man ihre Meinung in Mitteleuropa friedlich äussern könnte – lässt man sich enttäuschen. Schlimm daran ist, dass die Polizei in ihrem brutalen Einsatz den Anweisungen von oben folgt. Die Nothilfe, die 2009 eingeführt wurde, die die Isolation von Einzelpersonen und Familien in kollektiven Zentren unter der wachsamen Kontrolle der Privatfirma ORS impliziert, ist repressiv und richtet sich an Menschen, die die Schweiz verzweifelt verlassen müssen.

Geflüchtete Aktivisten, die versuchen, für ihre Rechte zu demonstrieren, könnten sich einer ganzen Reihe von Verfolgungen durch die Behörden “erfreuen”. Geflüchtete Protestierende von der Demonstration könnten nicht einmal eine Beschwerde gegen Polizeigewalt einreichen, ohne keine Repressalien zu erhalten. Aktivität und Uneinigkeit mit der vorherrschenden Meinung der rechten Parteien werden bestraft und werden in der Tat zu einem Privileg.

Ich hätte mir gewünscht, dem wegen des Tränengas weinenden Jungen zu versichern, dass der Kampf seiner schwangeren schwarzen Mutter um ihre Rechte nicht vergessen wird. Ich würde ihm sagen, dass er, wann er gross wird, diese Demonstration wie einen bösen Traum vergessen wird, und dass es keine Diskriminierung geben wird. Ich wollte sagen – morgen wird alles gut. Das kann ich aber nicht. Ich kann sogar diesen Text nicht selbst unter meinem eigenen Namen schreiben. Weil Aktivismus strafbar seien könnte, weil es Konsequenzen geben könnte.

Und ich frage mich immer wieder, warum alles so passiert – warum muss ich im 21. Jahrhundert in einem Staat, der stolz auf seine humanitären Traditionen ist, meinen Namen verstecken, wenn ich diese Zeilen schreibe?

Warum haben Geflüchtete Personen kein Recht, gegen die Isolation zu protestieren und bessere Bedingungen zu fordern? Und wenn sie protestieren, müssen sie mit Gummischrot, Wasser aus einem Wasserwerfer oder Tränengas und Pfefferspray beschossen werden? Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht!

Die Gewalt der Polizei bei der Demonstration am 22.September hat Konsequenzen. Wenn wir schweigen, Medien schweigen, stimmen wir Alle der stillschweigend zu, und unsere stillschweigende Zustimmung unterstützt und gibt den Machthabern Nahrung und Hoffnung, mit denen solche Aktionen der Polizei in Zukunft auch weitergemacht werden können.

Ist das die Zukunft, die wir wollen? Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der diese Kinder von der Demonstration offen über Probleme oder Proteste diskutieren können. In der meine Schwestern und Brüder, die jetzt in den Asylcamps leben, unter uns leben und arbeiten würden. Damit wir nie wieder über staatliche Repressionen und die Racial Profiling der Polizei schreiben müssen. Damit ich mich nicht mehr unter einem Pseudonym verstecken muss…

*Name geändert

Das Solinetz schrieb einen Offenen Brief an die Berner Polizei. Hier.
Mehr Stellungnahmen und Medienberichte finden Sie hier: migrant-solidarity-network.ch.