Kafkaeske Abläufe mit Behörden, kleine Siege und grosse Solidarität

Liebe Menschen, ausgestattet mit Würde und Rechten!

Ich möchte eine Geschichte erzählen, die ich persönlich hier in Langnau erlebt habe. Sie geht nicht wirklich gut aus, ist aber exemplarisch für das, was wir als Solinetz erleben an kafkaesken Abläufen mit Behörden, kleinen Siegen und grosser Solidarität.

Vor ein paar Jahren wurde ich von der damaligen Geschäftsführerin des Solinetzes gebeten, doch bitte mit der Asylbetreuerin von Zinaida zu sprechen.
Zinaida ist eine junge Kinderärztin aus Südossetien, die mit ihren drei Töchtern hier in Langnau wohnte. Zinaida setzte vom ersten Tag an alles daran, hier Fuss zu fassen und sich zu integrieren.
Als ich sie kennenlernte, wohnte sie seit 2 Jahren in der Schweiz und sprach sehr gut Deutsch. Sie absolvierte gerade einen Kurs für Deutsch im medizinischen Bereich, den sie selbst gefunden hatte, so wie sie alles oder fast alles selber an die Hand nahm.
Ihre Töchter gingen nahtlos in die Klassen, die ihrem Alter und Werdegang entsprachen, ohne Repetition oder Umweg, obwohl sie erst hier zum ersten Mal mit Deutsch konfrontiert wurden.
Zinaida engagierte sich in der Nachbarschaftshilfe und suchte sich eine Arbeit. Laut Gesetz ist es ja möglich, mit N-Ausweis, also im Asylverfahren, nach 3 oder 6 Monaten in bestimmten Branchen zu arbeiten.
Die Pflege ist so ein Bereich, und den hatte Zinaida, die Kinderärztin, ins Auge gefasst. Und sie hatte auch eine Stelle gefunden, aber ihre Betreuung in der Gemeinde verbot ihr, diese Stelle anzutreten.

Das war der Moment, wo ich beigezogen wurde. In einem längeren Telefongespräch erfuhr ich, dass Zinaida nicht arbeiten sollte, weil die anderen Personen mit N-Ausweis in der Gemeinde auch nicht arbeiteten. Das wäre ja ungerecht.

Frage: Bedeutet gerecht, dass man es allen möglichst schlecht macht?

Dann fragte ich, ob denn die anderen Personen auch gut Deutsch sprächen und ausgebildete Mediziner seien. Nein, waren sie nicht. Man erklärte mir aber, die Gemeinden hätten für Personen aus dem Asylbereich keinen Integrationsauftrag.

Frage: Haben die Gemeinden einen Desintegrationsauftrag?

Und überhaupt, wie ich mir das denn vorstellte, dass eine Mutter von 3 Kindern arbeiten solle? Ich erklärte, ich als Mutter von 4 Kindern hätte stets gearbeitet und auf familienexterne Kinderbetreuung und gute Organisation gesetzt. Es gibt ja in Langnau einen Hort. In weiteren Gesprächen wurde mir von verschiedenen Personen klargemacht, Zinaidas Kinder könnten nicht in den Hort, weil die Gemeinde den Horttarif nicht ausrechnen könne, weil Zinaida als Person aus dem Asylbereich keine Steuererklärung ausfülle. Das leuchtet natürlich ein.
Also gingen wir in die Rechtsberatung und erkundigten uns, ob es einen Ausweg gebe. Der Anwalt meinte, das Problem scheine ja die Kinderbetreuung zu sein.
Wenn wir es also schafften, sowohl vom AWA, also dem Amt für Arbeit, eine Arbeitsbewilligung für Zinaida zu bekommen, als auch, die Betreuung der Töchter zu organisieren, spreche nichts gegen eine Berufstätigkeit von Zinaida.

Wir machten uns auf die Suche und stiessen in Langnau auf eine überwältigende Welle der Solidarität:
Die reformierte Pfarrgemeinde übernahm einen Teil der Hortkosten, so dass die Kinder einen oder zwei Tage, ich weiss es nicht mehr, im Hort betreut werden konnten. An den anderen Wochentagen konnten die drei Mädchen regelmässig zu Familien aus Langnau. Die Lehrerinnen waren involviert, die Nachbarschaftshilfe, die Hortnerin, die Pfarrerin. Alle hatten sie den Betreuungsplan mit allen Zeiten und relevanten Telefonnummern.
Inzwischen war aber die Pflegestelle in Langnau oder Umgebung nicht mehr frei, dafür hatte Zinaida die Bewilligung erhalten, in Basel in einem Spital ein Praktikum als Assistenzärztin zu absolvieren.
Ein Teil eines zweiten Praktikums fiel dann in die Sommerferien, wo die betreuenden Familien abwesend waren. Dafür war ich in Zürich und konnte eine Ferienwoche mit den drei Mädchen verbringen.

Alles wunderbar.

Wie ging es aus?

Das Asylgesuch war zwischenzeitlich definitiv abgelehnt worden, eine Ausreisefrist anberaumt. Gleichzeitig war eine feste Anstellung in einem Behindertenheim in unmittelbare Reichweite gerückt.

Frage: Wie sinnvoll ist es, wenn Angehörigen von Drittstaaten das Asylverfahren als einzige Eintrittspforte in die Schweiz offensteht?

Und noch eine Frage: Wie sinnvoll ist es, wenn diese Eintrittspforte nur in die Sackgasse des Arbeitsverbots mündet, ohne Ausweg oder Weg zurück?

Und noch eine weitere Frage: Warum fürchten sich Arbeitgeber derart davor, sich für die Einstellung einer Person aus der Sackgasse stark zu machen?

Das Gesuch der in unserem Fall mutigen Arbeitgeberin um Arbeitsbewilligung und auch das Gesuch einer Anwältin um Aufschiebung der Ausreise bzw. um Bleiberecht zum Arbeiten waren in Bearbeitung, als um 5 Uhr früh an einem Dienstagmorgen im Dezember 7 Polizisten Zinaidas Wohnung stürmten.
Jedes Kind musste einzeln und selbständig packen; die jüngste Tochter vergass, Winterkleider mitzunehmen und wurde so nach Moskau geschickt.
Ich raste noch an den Flughafen, wurde aber nicht bis zu Zinaida vorgelassen.
Am Lautsprecher im Flughafen wurde Passagier Zinaida aufgefordert, sich endlich ans Gate zu begeben. Zynismus? Maskerade? Unwissen? Passagier Zinaida sass bei der Flughafenpolizei und wurde von Polizisten ins Flugzeug geführt.
Diese setzten sich locker-unbeschwert neben sie und die Kinder und machten einen auf netten Onkel. Schliesslich handelte es sich um einen regulären Linienflug mit normalen Passagieren, die man nicht erschrecken wollte.

Heute lebt Zinaida in einem Moskauer Vorort und arbeitet als Kinderärztin. In Südossetien hat sie es versucht, konnte dort aber nicht bleiben, weil sie trotz 3 Anstellungen als stationäre Ärztin, Ambulanzärztin und Nachtwachen ihre Familie nicht über die Runden brachte. Ganz zu schweigen vom gewalttätigen Exmann, der immer noch dort lebt und sich mit dem Polizei-Chef, seinem Bruder oder Schwager, bestens versteht.
In Moskau bedauert Zinaida, dass sie so vieles von dem, was sie im Spital in der Schweiz gelernt hat, nicht anwenden kann. Zu gross die Rückwärtsgewandtheit der Medizin, zu starr die Hierarchien, zu verbreitet die Korruption.
Die Töchter haben ihr Deutsch fast vergessen, lernen jetzt aber Französisch in der Schule. Die seltenen Male, wenn sie mit ihren ehemaligen Klassengschpänli skypen, verstehen sie einander kaum noch.

Und hier?

Private Gewalt gegen Frauen ist immer noch kein Asylgrund. In der Schweiz werden pro Jahr 1000 Ärzte zu wenig ausgebildet. Aber das sind zwei andere Geschichten.

Rede von Séverine Vitali anlässlich der 1. Mai-Feier 2017 in Langnau am Albis.

Séverine Vitali ist Gründungs- und Vorstandsmitglied des Solinetzes. Ausserdem hat sie zusammen mit der Fotografin Ursula Markus das Kochbuch „Heimat im Kochtopf“ bzw. „La cuisine des réfugiés“ geschrieben.