Nothilfe: Die unterschiedliche Praxis in den Kantonen zeigt, dass es Handlungsspielräume gibt

In einem offenen Brief zum Nothilfesystem in der Schweiz wandten sich im Februar 2022 rund 500 medizinische und psychologische Fachpersonen an Behörden und PolitikerInnen.
Im offenen Brief übten die Fachleute Kritik an der Behandlung von abgewiesenen Asylsuchenden im Nothilfesystem. Sie schreiben, dass Nothilfe als Langzeitmassnahme unhaltbar und zermürbend ist und die psychische und physische Gesundheit gefährdet. Der Bundesrat, das SEM und das Parlament sollten anerkennen, dass Nothilfe für Langzeitnothilfebeziehende nicht menschenwürdig umgesetzt werden kann. Das Solinetz, welches den offenen Brief mitkoordiniert hat, stellt das Nothilfesystem grundsätzlich in Frage.

Doch heute wollen wir aufzeigen, dass die Kantone bereits jetzt handeln können. Wir haben die Antworten der Behörden auf den offenen Brief sorgfältig analysiert und zeigen auf, wie die Kantone ihren Handlungsspielraum positiv nutzen, um Menschenwürde und psychische Gesundheit zu schützen. Mehr liegt drin!

Hier finden Sie die ausführliche Analyse der Antworten (PDF Dez 2022).

Die wichtigsten Punkte zusammengefasst:

  • Grundbedarf: Ansätze der Nothilfe können für Familien mit Kindern angehoben werden (Basel-Landschaft, Basel-Stadt); Genf sieht zusätzliche Mittel für Kinder in Ausbildung vor. Manche Kantone setzen die Tagesansätze für Essen, Mobilität, Kommunikation usw. wesentlich höher als andere, da der Bund keine genauen Vorgaben macht.
  • Unterkünfte insbesondere, aber nicht nur für Vulnerable: Der gesetzlich vorgeschriebenen besonderen Berücksichtigung individueller Bedürfnisse von vulnerablen Personen bei der Unterbringung tragen folgende Kantone mindestens teilweise Rechnung, in dem sie Wohnungen und Wohngemeinschaften zur Verfügung stellen: Aargau, Fribourg, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Obwalden. Die meisten Kantone nutzen keine unterirdischen Bunker als Unterkünfte für abgewiesene Asylsuchende.
  • Aufhebung der Ein- und Ausgrenzungen, Verzicht auf Haft- und Geldstrafen: Hierzu gab es so gut wie keine Antworten der Kantone, ausser dem Hinweis von Basel-Landschaft, dass Rayonverbote zurückhaltend ausgesprochen würden. Laut Erfahrung der unterzeichnenden Organisationen ist die Praxis der Kantone hier jedoch sehr unterschiedlich: Manche verzichten mehr oder weniger auf polizeiliche Repression, Bussen und Inhaftierung wegen illegalen Aufenthalts.
  • Recht auf angemessene Teilhabe: Beschäftigungsprogramme für psychisch belastete Personen kennen der Kanton Aargau, die Teilnahme an Beschäftigungsprogrammen die Kantone Basel-Landschaft, Basel-Stadt; Beschäftigungsangebote gibt es in den Unterkünften des Kantons Fribourg, weiterführende Ausbildung inkl. Berufslehre für abgewiesene Jugendliche in Basel-Stadt, zusätzliche finanzielle Unterstützung für Jugendliche in Ausbildung in Genf, bessere Zugangsbedingungen für eine Beschäftigung für Eltern in Genf.
  • Medizinischpsychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung: Beschäftigungsmöglichkeiten für psychisch belastete Personen bietet der Kanton Aargau an. Der Kanton Fribourg hat ein Modell zur besseren Zusammenarbeit der Fachleute zwecks Erkennung, Zuweisung und Behandlung von psychisch besonders notleidenden Personen in der Nothilfe erarbeitet.
  • Kinderrechtskonforme Bedingungen für Kinder abgewiesener Familien: Ein akzeptables Umfeld für Kinder in der Nothilfe, d.h. Besuch der öffentlichen Schule, weiterführende Ausbildung wie Berufslehre oder andere Ausbildung auf Sekundarstufe II bietet Basel-Stadt, zusätzliche finanzielle Unterstützung für Kinder in Ausbildung Genf, die Garantie zur Beendigung der begonnenen Ausbildung Fribourg, allerdings im Tausch mit dem Einverständnis, nach der Ausbildung das Land zu verlassen.
  • Regularisierung, vorläufige Aufnahme: Personen, die gute Aussichten auf positive Antwort auf ein Härtefallgesuch haben, werden in manchen, aber nicht allen Kantonen mehr oder weniger selektiv an das SEM weitergewiesen. Genf versucht die Chancen für eine Regularisierung von Eltern zu verbessern, indem der Kanton ihnen den Zugang zu Beschäftigungsmöglichkeiten als Voraussetzung der Integration erleichtert. Der Kanton Basel-Stadt setzt sich beim Bund dafür ein, dass abgewiesene Asylsuchende, die aus technischen, gesundheitlichen oder anderen Gründen nicht weggewiesen werden können, vorläufig aufgenommen werden.