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Heute geben wir dem Schriftsteller und Solinetz-Freiwilligen Urs Hardegger das Wort
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Denn ich bin ein unangemeldetes Leben,
Ich habe keinen Pass.
Ich stehe daneben und bleibe daneben
Den Beamten ein ewiger Hass.

Max Werner Lenz, Zürich 1935

Die 37-jährige Fanny Hirsch rettet sich nach Genf und versucht mit einer Scheinehe ihren Aufenthalt zu sichern, der niederländische Student Huug van Dantzig überschreitet im Jura illegal die Schweizer Grenze, und dem ostschlesischen Rabbi Shaul Weingort gelingt es im letzten Moment, sich zu seiner Verlobten nach Montreux zu retten. Drei Ereignisse, die sich während der Zeit des Nationalsozialismus zugetragen haben. Menschen werden verfolgt, sie fürchten um ihr Leben sowie um das ihrer Angehörigen und suchen Schutz in der Schweiz. Dahinter stecken Tragödien, die für unzählige ähnliche Schicksale stehen.

Die drei hatten Glück, sie wurden aufgenommen. Doch Glück ist relativ. Denn sie stehen weiterhin daneben und bleiben daneben, wie es im einleitenden Vierzeiler heisst. Dies ergeben meine Recherchen, die sich im Laufe der Nachforschungen allmählich zu drei bewegenden Lebensgeschichten zusammenfügen. Sie stehen im Mittelpunkt meines Romans «Für einen Pass und etwas Leben»*, der soeben erschienen ist. Ihre Geschichten verraten nicht nur viel über das Flüchtlingsdasein, sondern geben noch mehr von den damaligen Zeitumständen preis.

Achtzig Jahre später. Wie jeden Mittwoch versammeln sich rund ein Dutzend Frauen und Männer um einen grossen Tisch im Kirchgemeindehaus Fluntern. Heute lesen wir Kleininserate aus Zeitungen: Tüchtige Bürohilfskraft sucht Arbeit / Aushilfe im Service gesucht … Eine Übung im Leseverstehen, so wie es ein Deutschlehrmittel als Übung anbietet. Adrian ist Kaufmann, auf welche Stelle soll er sich melden? Eine gute Frage. Die Anwesenden diskutieren eifrig, obwohl den meisten Anwesenden klar ist, dass sie sich weder auf diese noch auf eine andere Stelle melden können. Obwohl sie seit Jahren in der Schweiz leben, dürfen sie nicht arbeiten. Und so muss es ihnen bei vielen Lehrmitteltexten ergehen. Diese erzählen von einer Welt, von der sie ausgeschlossen sind und die nichts mit ihrer Realität zu tun hat. Sie sind Geflüchtete aus Äthiopien, Eritrea, Sri Lanka, Afghanistan und haben andere Sorgen. Nach ihren abgelehnten Asylanträgen gehören auch sie zu den unangemeldeten Leben, stehen auch sie daneben. Seit Jahren leiden sie unter der Ungewissheit, ob und wann sie «ausgeschafft» werden.

Denn an einem hat sich nichts geändert: Die offizielle Schweiz will diese Menschen nicht, und das gibt sie ihnen klar und deutlich zu verstehen. Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Boot für voll erklärt, die jüdische Religion lange nicht als Fluchtgrund anerkannt. Viele Geflüchtete wurden abgewiesen, obwohl der Bundesrat über den Holocaust informiert war. Heute wird ihnen die Berechtigung zur Flucht abgesprochen, ihr Gesuch abgewiesen. Sie seien ja nur Wirtschaftsflüchtlinge, wird gesagt. In einem Deutsch, das nur Juristen sich ausdenken können, werden sie zu «Menschen unter Nothilfe mit einem rechtskräftigen Wegweisungsentscheid» erklärt und damit entrechtet, marginalisiert und unsichtbar gemacht. Ohne Pass, diesem nach Bertolt Brecht «edelsten Teil des Menschen», existieren sie auch nicht, da ihnen der Zugang zu den elementarsten Dingen des gesellschaftlichen Zusammenlebens verwehrt bleibt. Oder wie Hannah Arendt es ausdrückt: Es fehlt ihnen das «Recht, Rechte zu haben».

Die Nöte der «Sans-Papiers» treten im Unterricht nur selten an die Oberfläche. Wir konzentrieren uns auf das Machbare. Die meisten von ihnen haben den A2-Test bestanden und möchten sich nun auf die B1-Prüfung vorbereiten. Noch immer kommen vielen die deutschen Wörter nur schwer über die Lippen, manchmal stockt das Gespräch, weil die Wörter fehlen. Oft gibt es auch etwas zu lachen, weil durch ein Missverständnis eine lustige Situation aufgetreten ist. Die Stunden sind voller Überraschungen und nehmen oft ungeplante Wege. Dabei lerne ich viel über mir vorher unbekannte Kulturen und Menschen. Hier geht es beim Erlernen der Sprache nicht nur darum, sich besser zu verständigen, dahinter steckt auch eine Botschaft: Mögen die Schwierigkeiten noch so gross sein, gib nicht auf, die Mühe lohnt sich. Kämpfe für dich und dein Leben! Wir unterstützen dich.

Ganz gleich, in welcher Welt ich mich bewege, ob als Buchautor in der Vergangenheit oder als Lehrer in der Gegenwart: Vor mir erscheinen oder stehen Menschen. Menschen mit Bedürfnissen, Freuden und Leiden. Menschen mit der Sehnsucht nach einem Ort, an dem sie in Ruhe leben können. Ihre Rechte und ihre Würde gilt es zu schützen, sowohl auf politisch-gesellschaftlicher Ebene als auch in der direkten Begegnung. Solinetz leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Dabei mitzuarbeiten, ist eine spannende und für mich zutiefst befriedigende Aufgabe.

Urs Hardegger,
Schriftsteller und freiwilliger Deutschunterrichtender beim Deutschkurs Fluntern

*Urs Hardegger: Für einen Pass und etwas Leben. Nagel & Kimche, Zürich 2022. Im Herbst 2022 finden verschiedene Lesungen statt (detaillierte Angaben unter www.urshardegger.ch).
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Fotos: Deutschklasse von Urs Hardegger, Tandempaar am Tandemfest, Ursula Markus, 2022
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